Leitsatz
1. Die Feststellung eines GdB wegen eines gesicherten frühkindlichen Autismus ist rückwirkend auch ab der Geburt möglich, wenn sich bereits ab Geburt hinreichend gesichert besondere Auffälligkeiten manifestieren, die nach dem Stand der Wissenschaft als frühe Kennzeichen für einen frühkindlichen Autismus zu werten sind (so auch LSG Chemnitz vom 27.6.2016 - L 9 SB 115/13).
2. Hierbei ist bereits die tatsächlich gegebene Einschränkung der Teilhabemöglichkeiten des Kleinkinds entscheidend und nicht erst deren Erkennbarkeit nach außen - etwa für Eltern oder Kinderärzte - oder ihre tatsächliche Wahrnehmung durch außenstehende Beobachter.
3. Bei einer noch nicht diagnostizierten Erkrankung an frühkindlichem Autismus und bei Fehlen jeglicher Anhaltspunkte für einen erheblich gesteigerten Pflegeaufwand greift trotz der Regelung des Teil A Nr 5 Buchst d DBuchst bb VMG (Versorgungsmedizinische Grundsätze in der Anlage zu § 2 VersMedV) die Intention gemäß Teil A Nr 5 Buchst b VMG durch, das Merkzeichen H bei nicht messbarem oder eher geringfügigem Mehraufwand auch bei Kindern und Jugendlichen nicht zuzuerkennen.
Der am 1. August 2013 geborene Kläger, bei dem frühkindlicher Autismus festgestellt worden ist, begehrt – vertreten durch seine Eltern – die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 sowie der Merkzeichen H und B bereits ab dem Tag seiner Geburt. Festgestellt sind ein GdB von 50 sowie die Merkzeichen H und B ab dem 1. August 2015, dem zweiten Geburtstag des Klägers, festgestellt ist ferner ein GdB von 70 ab dem 28. August 2015 gemäß Bescheid des Beklagten vom 6. Juli 2017.
Am 11. März 2016 beantragte der Kläger, dessen aus K. stammenden Eltern beide als selbständige Zahnärzte tätig sind, die Feststellung eines GdB aufgrund einer tiefgreifenden frühkindlichen Entwicklungsstörung sowie eines frühkindlichen Autismus. Der Beklagte holte einen Befundbericht des Kinderarztes Dr. L. ein, der mitteilte, der Kläger sei seit Januar 2016 in seiner Betreuung, der Verdacht auf Autismus sei aufgekommen und der Kläger sei im Sozialpädiatrischen Zentrum des Kinderhospitals M. vorgestellt worden. Im dortigen Bericht vom 8. Februar 2016 ist ausgeführt, in der Entwicklung seien die motorischen Meilensteine zeitgerecht erreicht worden, allerdings würden im Bereich der sprachlichen Entwicklung große Auffälligkeiten bestehen. Der Kläger werde zweisprachig erzogen (polnisch und deutsch), die Lautentwicklung im Säuglingsalter sei den Eltern unauffällig erschienen. Im Verlauf sei es jedoch zu einer deutlichen Verzögerung der sprachlichen Entwicklung gekommen. Ein Versuch im November 2015, den Kläger in eine Kindertagesstätte einzugliedern, sei aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeiten gescheitert. Nunmehr sei der Besuch einer integrativen Krippe geplant. Diagnostiziert wurde eine deutliche globale Entwicklungsretardierung, die insbesondere den sprachlichen Bereich betreffe. Besonders auffallend sei das Verhalten des Klägers gewesen, eine Kontaktaufnahme sei nicht möglich gewesen. Es bestehe der Verdacht auf eine Erkrankung aus dem autistischen Formenkreis. Seit Februar 2016 ist u. a. die Pflegestufe I anerkannt worden. Der Kinderarzt Dr. N. berichtete unter dem 24. Mai 2016, im Rahmen der Untersuchung U7 sei es im August 2015 zu stärkeren Auffälligkeiten gekommen, der Kläger habe kein Wort verständlich aussprechen können und sei stetig suchend im Zimmer unterwegs gewesen. Die Auffälligkeiten seien dann nach der Eingruppierung im Kindergarten stärker hervorgetreten. Die weitere ärztliche Betreuung erfolge seit Januar 2016 durch Dr. L.. Vom 8. bis 10. Juli 2015 befand sich der Kläger zudem in stationärer Behandlung wegen Gastroenteritis.
Der Ärztliche Dienst des Beklagten – Dr. O. – empfahl die Feststellung eines GdB von 50 sowie des Merkzeichens H ab dem 1. August 2015, was der Beklagte mit Bescheid vom 30. Juni 2016 umsetzte. Das insbesondere mit dem Ziel der rückwirkenden Feststellung des GdB auf den Tag der Geburt durchgeführte Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Dort wurde ein ergänzender Bericht des Kinderhospitals M. vom 2. Mai 2016 beigezogen. Der Ärztliche Dienst – Dr. P. – sah Auffälligkeiten in der Entwicklung des Klägers erst im August 2015 im Rahmen der U7 erstmalig dokumentiert und empfahl dementsprechend keine Abhilfe hinsichtlich der früheren Feststellung des GdB. Allerdings könne das Merkzeichen B zusätzlich anerkannt werden, auch dies mit Wirkung ab dem 1. August 2015. Dementsprechend half der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 31. August 2016 dem Widerspruch des Klägers insoweit ab, als das Merkzeichen B ab dem 1. August 2015 festgestellt wurde, und wies den Widerspruch des Klägers im Übrigen zurück.
Der Kläger hat am 27. September 2016 Klage erhoben. Zunächst habe der Beklagte außer Acht gelassen, dass beim Kläger eine Gluten- und Kuhmilchunverträglichkeit vorliege. Auch liege eine Schallleitungsstörung vor. Insbesondere aber liege die Erkrankung aus dem autistischen Formenkreis bereits seit seiner Geburt am 1. August 2013 vor. Der Umstand, dass sich die Auswirkungen erst später durch Verhaltensauffälligkeiten geäußert hätten, ändere nichts an diesem Umstand. Auch Dr. N. habe seine Aussage vom 24. Mai 2016 mit weiterer Stellungnahme vom 20. September 2016 korrigiert; diese Stellungnahme des Dr. N. ist nach Erlass des Widerspruchsbescheides zu den Verwaltungsakten gelangt und hat den Inhalt, nach Durchsicht der Einträge und aus seiner Erinnerung heraus sei es nicht korrekt, dass erste Auffälligkeiten erst bei der U7 aufgetreten seien. Vielmehr sei der Kläger bereits im zweiten Lebensjahr deutlich auffällig gewesen, ungefähr seit dem Spätsommer 2014. Er habe auf keinerlei verbale Interventionen reagiert, sei stetig zielsuchend durch die Gegend gelaufen, habe alles angefasst und ohne Handlungsplanung agiert. Der Beginn der Behinderung sei auf den Tag der Geburt zu legen.
Der Ärztliche Dienst – Dr. Q. – hat die Anhebung des GdB auf 70 ab dem 28. August 2015 (Datum der Untersuchung U7) vorgeschlagen, jedoch keine Feststellung eines GdB für einen früheren Zeitpunkt. Zwar handle es sich bei autistischen Störungen grundsätzlich um angeborene Erkrankungen, eine Teilhabebeeinträchtigung bestehe üblicherweise aber nicht bereits von der Geburt an. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat demgegenüber in mehreren Stellungnahmen weiterhin auf den Zeitpunkt der Erkrankung abgestellt, die seit Geburt vorliege.
Mit Gerichtsbescheid vom 28. Juni 2017 hat das Sozialgericht (SG) Osnabrück die Klage abgewiesen und hat darauf hingewiesen, zwar habe der Kläger ein besonderes Interesse an der rückwirkenden Feststellung aufgrund steuerrechtlicher Erwägungen glaubhaft gemacht, jedoch komme eine solche Feststellung nicht in Betracht. Aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen ergäben sich keine durchgreifenden Hinweise darauf, dass vor August 2015 wesentliche Entwicklungsrückstände ärztlicherseits festgestellt worden wären und sich hieraus ein besonderer Pflege- oder Betreuungsaufwand ergeben hätte, der wesentlich über die Versorgung eines gesunden Kleinkindes hinausgegangen wäre. Besondere diagnostische Maßnahmen oder andere Interventionen seien offenbar nicht erfolgt.
Gegen den seinen Prozessbevollmächtigten am 30. Juni 2017 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 26. Juli 2017 Berufung eingelegt. Erneut hingewiesen worden ist im Rahmen der Berufungsbegründung auf eine Dysplasie der Nägel auf beiden Zeigefingern, wonach davon auszugehen sei, dass im embryonalen Stadium des Klägers irgendetwas gesundheitlich nicht in Ordnung gewesen sei. Der Kläger habe auch oft an Durchfällen gelitten und sei aus diesem Grund schon zweimal im Krankenhaus behandelt worden, und zwar im Alter von 5 und von 18 Monaten. Im Rahmen eines Schwimmkurses, den er mit ca. 6 Monaten mit seiner Mutter gemeinsam besucht habe, habe diese festgestellt, dass der Kläger – im Gegensatz zu allen anderen Kindern, die in den Gruppen sehr viel Spaß gehabt hätten – ständig am Schreien gewesen sei und gebrüllt habe, dass er so schnell wie möglich aus dem Wasser herauswollte. An allen Spielen habe er sich gänzlich desinteressiert gezeigt. Der Kinderarzt habe im Rahmen der Untersuchungen die Vorgänge bagatellisiert und das junge Alter des Klägers als Erklärung für das Verhalten vorgegeben. Beim Kläger habe zudem von Anfang an der Blickkontakt gefehlt. Er habe auch nicht gelächelt, wenn er angelächelt worden sei. Er habe auch weder Bewegungen, noch Gesichtsausdrücke nachgeahmt. Auch im Übrigen habe er Verhaltensweisen gezeigt, die typisch für autistische Kinder seien. Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt des Schriftsatzes vom 19. Februar 2018 verwiesen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Osnabrück vom 28. Juni 2017 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 30. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2016 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, bereits ab dem 1. August 2013 einen GdB von mindestens 50 sowie die Merkzeichen H und B festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf die vorliegenden versorgungsärztlichen Stellungnahmen, auf den Gerichtsbescheid des SG Osnabrück sowie darauf, der Nachweis von Funktionsbeeinträchtigungen könne grundsätzlich nur durch das Zeugnis von sachverständigen Zeugen, also behandelnden Ärzten erfolgen. Eine Parteivernehmung oder Zeugenvernehmung von Eltern als gesetzlichen Vertretern des minderjährigen Klägers scheide aus. Im Übrigen sei ohnehin bei Kleinstkindern im Falle des Autismus regelhaft eine dauerhafte und erhebliche Abweichung von dem für das Lebensalter typischen Zustand kaum nachweisbar.
Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen, die dem Gericht vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen sind.
Die form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz –SGG–) eingelegte Berufung ist zulässig (§ 143 SGG), aber nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 30. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. August 2016 ist ebenso wie der Gerichtsbescheid des SG Osnabrück vom 28. Juni 2017 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines GdB ist nunmehr § 152 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Neufassung durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz - BTHG, BGBl. I 2016, 3234 ff.); im streitigen Zeitraum galten noch die die bisherigen Regelungen des § 69 SGB IX (Fassung bis zum 31. Dezember 2017). Hiernach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest (Abs. 1 S. 1). Als GdB werden dabei die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Grundlage der Bewertung waren dabei bis zum 31. Dezember 2008 die aus den Erfahrungen der Versorgungsverwaltung und den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Tabellenwerte der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP). Dieses Bewertungssystem ist zum 1. Januar 2009 ohne wesentliche inhaltliche Änderungen abgelöst worden durch die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) BVG erlassene und zwischenzeitlich mehrfach geänderte Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV -) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I 2412). Die darin niedergelegten Maßstäbe waren nach § 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX (in der bis zum 14. Januar 2015 gültigen Fassung) auf die Feststellung des GdB entsprechend anzuwenden. Seit dem 15. Januar 2015 existiert im Schwerbehindertenrecht eine eigenständige Rechtsgrundlage für den Erlass einer Rechtsverordnung, in der die Grundsätze für die medizinische Bewertung des GdB und auch für die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen aufgestellt werden (§ 70 Abs. 2 SGB IX in der seit dem 15. Januar 2015 gültigen Fassung bzw. § 153 Abs. 2 SGB IX in der seit dem 1. Januar 2018 gültigen Fassung). Hierzu sieht der zeitgleich in Kraft getretene § 159 Abs. 7 SGB IX (nunmehr § 241 Abs. 5 SGB IX n. F.) als Übergangsregelung vor, dass bis zum Erlass einer solchen Verordnung die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Als Anlage zu § 2 VersMedV sind "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VMG) erlassen worden, in denen u.a. die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) i. S. des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden sind. Diese sind auch für die Feststellung des GdB maßgebend (vgl. Teil A Nr. 2 a VMG). Die AHP und die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretenen VMG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts [BSG], vgl. z. B. Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 SB 2/13 R - juris Rn. 10 m. w. N.).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen (s. § 2 Abs. 1 SGB IX) und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VMG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist - in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB (vgl. Teil A Nr. 3 c VMG) - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in den VMG feste Grade angegeben sind (Teil A Nr. 3 b VMG). Hierbei führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung und auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d ee VMG; vgl. zum Vorstehenden auch BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R - juris Rn. 29).
Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe (vgl. BSG a.a.O. Rn. 30). Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Maßgeblich für die darauf aufbauende GdB-Feststellung ist, wie sich nicht nur vorübergehende Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auswirken. Bei der rechtlichen Bewertung dieser Auswirkungen sind die Gerichte an die Vorschläge der von ihnen gehörten Sachverständigen nicht gebunden (BSG, Beschluss vom 20. April 2015 - B 9 SB 98/14 B - juris Rn. 6 m.w.N.).
Unter Beachtung dieser Grundsätze sind der Gerichtsbescheid des SG und die Entscheidung des Beklagten nicht zu beanstanden.
Nach Teil B Nr. 3.5.1. VMG in der Fassung der dritten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze vom 17. Dezember 2010 liegt bei autistischen Erscheinungsformen eine Behinderung (erst) ab Beginn der Teilhabebeeinträchtigung vor und die pauschale Festsetzung des GdB nach einem bestimmten Lebensalter ist nicht möglich. Bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (u. a. frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom) sind folgende Grade der Behinderung anzusetzen: Ohne soziale Anpassungsschwierigkeiten 10 bis 20; mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten 30 bis 40; mit mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 50 bis 70; mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80 bis 100. Soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integrationsfähigkeit in Lebensbereiche (wie zum Beispiel Regelkindergarten, Regelschule, allgemeiner Arbeitsmarkt, öffentliches Leben, häusliches Leben) nicht ohne besondere Förderung oder Unterstützung (zum Beispiel durch Eingliederungshilfe) gegeben ist oder wenn die Betroffenen einer über das dem jeweiligen Alter entsprechende Maß hinausgehenden Beaufsichtigung bedürfen. Mittlere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung (zum Beispiel einen Integrationshelfer als Eingliederungshilfe) möglich ist. Schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten liegen insbesondere vor, wenn die Integration in Lebensbereiche auch mit umfassender Unterstützung nicht möglich ist.
Die Einordnung im Alter von bis zu zwei Jahren ist hierbei problematisch, da auf Kinder dieses Alters die genannten Beispielsfälle von Integrationsschwierigkeiten regelmäßig nicht passen, sondern eine Fixierung im Wesentlichen auf die engsten Bezugspersonen, insbesondere auf die Eltern, erfolgt. Grundsätzlich sieht der Senat insoweit die Möglichkeit der Feststellung eines GdB ab Geburt als gegeben an. Die Feststellung eines GdB wegen eines gesicherten frühkindlichen Autismus ist rückwirkend auch ab der Geburt möglich, wenn sich bereits ab Geburt hinreichend gesichert besondere Auffälligkeiten manifestieren, die nach dem Stand der Wissenschaft als frühe Kennzeichen für einen frühkindlichen Autismus zu werten sind (Sächsisches Landessozialgericht – LSG –, Urteil vom 27. Juni 2016 – L 9 SB 115/13 –, Rn. 31, juris Rn. 26 ff.; auf den Zeitpunkt der Manifestation abstellend auch der angefochtene Gerichtsbescheid des SG Osnabrück vom 28. Juni 2017).
Aufgrund des Umstandes, dass die Erkrankung angeboren ist, und der damit einhergehenden Teilhabebeeinträchtigung auf zwischenmenschlicher und kommunikativer Ebene, wobei es sich für einen Säugling bzw. für ein Kleinkind mindestens in gleichem Ausmaß wie für bereits ältere Kinder oder Erwachsene um überragend wichtige Fähigkeiten zur Wahrnehmung der ihm altersbedingt möglichen Teilhabe handelt, besteht eine Möglichkeit des Vorliegens einer entsprechenden Beeinträchtigung bereits von Geburt an. Dies gilt im Ausgangspunkt unabhängig davon, wann sich diese Störungen einem erwachsenen Beobachter zeigen und wann sie sich in dem Versuch einer Integration in Institutionen wie Kindergarten und Schule manifestieren. Diese Kommunikationsstörung stellt im Vergleich zu den Teilhabemöglichkeiten anderer Kleinkinder eine erhebliche Teilhabebeeinträchtigung dar.
Jedoch fehlt es im vorliegenden Einzelfall für die Feststellung eines GdB bezogen auf den Zeitraum vor dem zweiten Geburtstag des Klägers letztlich an hinreichenden tatsächlichen Erkenntnissen.
Gemäß ärztlichem Bericht vom 8. Februar 2016 sind die motorischen Meilensteine zeitgerecht erreicht worden. Allerdings zeigte sich nunmehr eine deutliche Entwicklungsretardierung mit großen Auffälligkeiten im Bereich der sprachlichen Entwicklung bei deutlicher Verzögerung, erheblichen Verhaltensauffälligkeiten, erheblich gestörter Kontaktaufnahme und nachfolgendem Scheitern eines Versuches im November 2015, den Kläger in eine Kindertagesstätte einzugliedern. Hinzu tritt das Vorbringen der Eltern des Klägers gemäß Schriftsatz vom 19. Februar 2018. Diese Feststellungen begründen jedoch keine volle Überzeugung des Senats davon, dass die Voraussetzungen eines GdB – insbesondere eines solchen von 50 – bereits ab Geburt oder zu einem bestimmten Zeitpunkt vor dem 1. August 2015 vorgelegen haben. Dies gilt trotz des Umstandes, dass hierbei bereits die tatsächlich gegebene Einschränkung der Teilhabemöglichkeiten des Klägers entscheidend ist, nicht erst deren Erkennbarkeit nach außen – etwa für Eltern oder Kinderärzte – oder ihre tatsächliche Wahrnehmung durch außenstehende Beobachter.
Der Beklagte sowie Dr. Reinelt in ihrer Stellungnahme vom 20. Dezember 2016 haben insbesondere darauf abgestellt, wann sich die Auffälligkeiten bei autistischen Kindern zeigen. Demgegenüber stellt der Senat auf das Vorliegen der Teilhabeeinschränkung ab, auch soweit sie zu dieser Zeit noch nicht erkannt wurde. Wäre bewiesen, dass der Kläger zu einem bestimmten feststellbaren Zeitpunkt nach seiner Geburt in den für Kleinkinder überragend wichtigen Funktionen des Erwerbs kommunikativer und sprachlicher Fähigkeiten in erheblicher Weise auch schon vor August 2015 gestört und aus diesem Grund in seiner Teilhabe deutlich beeinträchtigt war, hätte die Klage insoweit Erfolg. Der auch seitens des SG Osnabrück im Gerichtsbescheid vom 28. Juni 2017 benannten Aussage des LSG Baden-Württemberg, eine pauschale Festsetzung des GdB nach einem bestimmen Lebensalter sei nicht möglich (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21. Februar 2013 – L 6 SB 4007/12 –, juris Rn. 42), stimmt der Senat ausdrücklich zu. Der Senat meint bei alledem trotz des Wortlauts von Teil B Nr. 3.5.1 VMG auch nicht, dass soziale Anpassungsschwierigkeiten bei frühkindlichem Autismus erst ab tatsächlicher Integration in Kindergruppen zu bewerten seien, wenn die kommunikativen und sprachlichen Defizite im häuslichen Leben bereits zuvor, wenn auch ggf. zunächst unerkannt, bestehen und diese Defizite auch schon vor einer Eingruppierung in Kindergruppen die stets stattfindende Interaktion und Kommunikation des behinderten Menschen mit seiner Umwelt beständig und nachhaltig zu stören geeignet sind.
Eine solche Überzeugung vom Vorliegen einer Teilhabebeeinträchtigung zu einem früheren Zeitpunkt als dem 1. August 2015 hat sich der Senat indes nicht bilden können. Nicht zu einer diesbezüglichen Überzeugungsbildung eignet sich die vorgetragene Dysplasie der Nägel auf den Zeigefingern, die Erkrankung an Durchfällen und die Vorfälle im Rahmen des Schwimmkurses. Anders zu gewichten wäre es indes, wenn der Senat davon überzeugt wäre, dem Kläger habe – dem Vorbringen seiner Eltern gemäß – von Anfang an der Blickkontakt gefehlt, er habe auch nicht gelächelt, wenn er angelächelt worden sei und er habe weder Bewegungen noch Gesichtsausdrücke nachgeahmt. Diesbezüglich stehen einer vollen Überzeugung insbesondere die Untersuchungsberichte der Regeluntersuchungen des Klägers, die der U7 vorausgegangen sind, hier insbesondere der U4 vom 1. November 2013 („reaktives Lächeln fehlt“ ist durchgestrichen und nicht angekreuzt), der U5 vom 21. Februar 2014 („Blickkontakt fehlt“, „Reaktion auf Klingel/Telefon/Zuruf der Eltern fehlt“ sowie „Interesse für angebotenes Spielzeug fehlt“ sind durchgestrichen und nicht angekreuzt) und der U6 vom 4. Juli 2014 („Blickkontakt fehlt“ und „verzögerte Sprachentwicklung (keine Silbenverdopplung wie da-da)“ sind durchgestrichen und nicht angekreuzt) entgegen. Die genannten Entwicklungsschritte sind dort als erfragte Befunde abgeprüft worden und die später angegebenen Auffälligkeiten sind weder dort dokumentiert noch von Dr. N. in seinem ersten Befundbericht vom 24. Mai 2016 benannt worden. Daher hält der Senat die Richtigkeit der späteren abweichenden Darstellungen der Eltern des Klägers, insbesondere gemäß Schriftsatz vom 19. Februar 2018, und des Dr. N. in seinem Bericht vom 20. September 2016 zwar für möglich, eine volle Überzeugung von deren Richtigkeit – und damit entweder von der Unrichtigkeit der im Rahmen der zuvor durchgeführten Untersuchungen gefertigten Berichte oder von einem Auftreten derartiger Symptome ab Spätsommer 2014, also bereits kurz nach der zunächst unauffälligen U6 – hat sich der Senat jedoch nicht zu bilden vermocht.
Dass die Grunderkrankung angeboren ist, ist bei alledem weder zweifelhaft noch zwischen den Beteiligten umstritten. Die Auffassung des Beklagten, der Nachweis von Funktionsbeeinträchtigungen könne grundsätzlich nur durch das Zeugnis von sachverständigen Zeugen, also behandelnden Ärzten erfolgen, entspricht nicht der Rechtsprechung des BSG (vgl. Beschluss vom 7. April 2011 – B 9 SB 47/10 B – juris Rn. 3).
Das SG hat auch die Klage hinsichtlich der begehrten Nachteilsausgleiche H und B rechtsfehlerfrei abgewiesen. Dies folgt zunächst bereits aus den vorstehenden Ausführungen.
Abgesehen hiervon hält der Senat im Sinne einer selbständig tragenden Erwägung selbst bei Zugrundelegung der Annahme, die Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers sei bereits ab Geburt festzustellen gewesen, einen Anspruch auf Feststellung der begehrten Merkzeichen aus den nachfolgenden Gründen nicht für gegeben.
Grundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H waren im streitgegenständlichen Zeitraum § 69 Abs. 4 SGB IX (a. F.) i. V. m. § 33b Abs. 3 Satz 3, Abs. 6 Satz 1 Einkommenssteuergesetz (EStG) und § 3 Abs. 1 Nr. 2 der Schwerbehinderten-Ausweisverordnung (SchwbAwV). Bei den gemäß § 33b Abs. 6 EStG zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar zur Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren. Dabei ist bei Kindern und Jugendlichen nach Teil A Nr. 5 a VMG eine umfassendere Berücksichtigung von erforderlicher Anleitung und Förderung zu berücksichtigen, wobei stets nur der Teil zu berücksichtigen ist, der wegen der Behinderung den Umfang der Hilfebedürftigkeit eines gesunden gleichaltrigen Kindes überschreitet (Teil A Nr. 5 b VMG); dieser Anteil muss erheblich sein. Bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, die für sich allein einen GdB von mindestens 50 bedingen, und bei anderen gleich schweren, im Kindesalter beginnenden Verhaltens- und emotionalen Störungen mit lang andauernden erheblichen Einordnungsschwierigkeiten ist regelhaft Hilfebedürftigkeit bis zum 18. Lebensjahr anzunehmen (Teil A Nr. 5 d bb VMG).
Unter Beachtung der diesbezüglichen Grundsätze sind Säuglinge und Kleinkinder im Alter unter zwei Jahren von der Zuerkennung von Nachteilsausgleichen nicht grundsätzlich ausgeschlossen. So können Kleinkinder beispielsweise bereits ab ihrer Geburt hilflos im Sinne von § 33b Einkommensteuergesetz (EStG) sein und damit Anspruch auf den Nachteilsausgleich H haben, obwohl bei ihnen ein erhebliches Maß an Pflegebedürftigkeit bereits altersbedingt gegeben ist. Denn ein Säugling oder Kleinkind kann wegen einer Behinderung gesteigert pflegebedürftig sein (BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 – 9 RVs 1/95 –, BSGE 80, 97-102, SozR 3-3870 § 4 Nr. 18, Rn. 14).Dies ist jedoch nach den getroffenen Feststellungen beim Kläger eindeutig nicht der Fall gewesen; jedenfalls lässt sich eine gesteigerte Pflegebedürftigkeit des Klägers nach den geschilderten Umständen im Zeitraum vor dem dritten Lebensjahr nicht zur vollen Überzeugung des Senats belegen und wird in dem Ausmaß, wie sie für die Zuerkennung des Merkzeichens H erforderlich wäre, auch von den Eltern des Klägers – einschließlich der Ausführungen im Schriftsatz vom 19. Februar 2018 – nicht behauptet.
Hierbei unterzieht der Senat die Bestimmungen in Teil A Nr. 5 VMG einer Gesamtwürdigung, da sie bei der Anwendung auf den konkreten Fall zu gegensätzlichen Ergebnissen weisen. So ist einerseits klar definiert, dass stets nur der Teil der Hilfebedürftigkeit zu berücksichtigen ist, der wegen der Behinderung den Umfang der Hilfebedürftigkeit eines gesunden gleichaltrigen Kindes überschreitet (Teil A Nr. 5 b VMG); dieser Anteil muss erheblich sein. Bereits im ersten Lebensjahr können hiernach infolge der Behinderung Hilfeleistungen in solchem Umfang erforderlich sein, dass dadurch die Voraussetzungen für die Annahme von Hilflosigkeit erfüllt sind. Andererseits ist bei Erkrankungen der vorliegenden Art regelhaft Hilfebedürftigkeit bis zum 18. Lebensjahr anzunehmen (Teil A Nr. 5 d bb VMG). Diese Regel des Teil A Nr. 5 d bb VMG – die dem Wortlaut nach eingreift – kollidiert vorliegend mit der Voraussetzung, dass stets nur der Teil zu berücksichtigen ist, der wegen der Behinderung den Umfang der Hilfebedürftigkeit eines gesunden gleichaltrigen Kindes überschreitet (Teil A Nr. 5 b VMG) und dass dieser Anteil erheblich sein muss. Denn dieser Anteil an die Hilfebedürftigkeit eines gesunden gleichaltrigen Kindes überschreitendem Aufwand an Pflege und Zuwendung war in den ersten zwei Lebensjahren des Klägers, die auch bei gesunden Kindern eine intensive Zuwendung erfordern, eben nicht in besonderer Weise erheblich, sondern kaum erfassbar, zumal auch die Erkrankung zu dieser Zeit noch nicht diagnostiziert war. Der Senat löst diesen Wertungswiderspruch dahingehend auf, dass bei einer noch nicht diagnostizierten Erkrankung an frühkindlichem Autismus und bei Fehlen jeglicher Anhaltspunkte für einen erheblich gesteigerten Pflegeaufwand in einem auch in Teil A Nr. 5 d bb VMG angelegten Regel-Ausnahme-Verhältnis die Intention gemäß Teil A Nr. 5 b VMG durchgreift, das Merkzeichen H bei nicht messbarem oder eher geringfügigem Mehraufwand auch bei Kindern und Jugendlichen nicht zuzuerkennen.
Auch die Zuerkennung des Merkzeichens B hängt nicht von der Vollendung eines bestimmten Lebensjahres ab. Dessen Voraussetzungen können auch bei behinderten Säuglingen und Kleinkindern vorliegen, und zwar selbst dann, wenn deren Behinderungen nicht zu Nachteilen gegenüber gleichaltrigen gesunden Kindern führen (Teil D Nr. 2 a VMG). Denn Maßstab ist insoweit ausnahmsweise nicht der Vergleich mit gleichaltrigen Nichtbehinderten. Vielmehr kommt es darauf an, ob die festgestellten Gesundheitsstörungen bei Erwachsenen die Zuerkennung der genannten Nachteilsausgleiche rechtfertigen würden (BSG, Urteil vom 12. Februar 1997 – a. a. O. – Rn. 15). Dies ist jedoch bereits deswegen nicht der Fall, weil weder das Merkzeichen G noch das Merkzeichen H festgestellt sind, was für die Feststellung des Merkzeichens B Voraussetzung wäre. Nach § 3 Abs. 2 Schwerbehindertenausweisverordnung in Verbindung mit Teil D Nr. 2 VMG erfordert eine Berechtigung für eine ständige Begleitung bei schwerbehinderten Menschen die gleichzeitige Feststellung eines der Merkzeichen G, Gl oder H, an der es im fraglichen Zeitraum beim Kläger fehlt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 1 und Abs. 2 SGG liegen nicht vor. Der Senat erachtet zwar die vorstehend aufgeworfenen Rechtsfragen zur Bewertung des frühkindlichen Autismus für solche von grundsätzlicher Bedeutung, sie waren im konkreten Einzelfall aber nicht entscheidungserheblich.